Ein lebenslanges Wohnrecht im Erbfall klingt wie eine faire Lösung: Die Eltern geben das Haus an die Kinder, behalten aber das Recht, darin zu wohnen. Der überlebende Ehegatte erhält ein Wohnrecht, während die Kinder das Eigentum übernehmen. Klingt fair? In der Praxis ist es oft der Ausgangspunkt für jahrelange Streitigkeiten, steuerliche Überraschungen und familiäre Brüche. Die meisten Betroffenen unterschätzen, wie komplex dieses Recht wirklich ist - und wie schnell es aus dem Ruder laufen kann.
Was ist ein Wohnungsrecht wirklich?
Ein Wohnungsrecht (§ 1093 BGB) ist kein simples Nutzungsrecht. Es ist ein dingliches Recht, das im Grundbuch eingetragen wird und den Berechtigten berechtigt, eine Wohnung oder ein Haus ausschließlich für sich und seine Familie zu nutzen. Der Eigentümer - meist die Kinder - darf die Immobilie nicht mehr betreten, nicht wohnen, nicht vermieten. Nichts. Das ist der Kern. Es ist kein Nießbrauch. Wer ein Nießbrauchrecht hat, kann die Wohnung vermieten, Miete einziehen, sogar Teile verpachten. Wer ein Wohnungsrecht hat, darf nur wohnen. Punkt.
Dieses Recht ist höchstpersönlich. Es stirbt mit dem Berechtigten. Es ist nicht vererbbar, nicht übertragbar, nicht verkaufbar. Wenn Oma in ein Pflegeheim zieht, bleibt das Wohnrecht bestehen - auch wenn die Wohnung fünf Jahre leer steht. Das ist kein Fehler, das ist Gesetz. Und genau hier beginnen die Probleme.
Die drei größten Konflikte im Erbfall
Die meisten Streitigkeiten entstehen nicht aus böser Absicht, sondern aus Unwissenheit. Drei Konflikte tauchen immer wieder auf.
Erster Konflikt: Die Steuerfalle
Die Erben zahlen Erbschaftssteuer auf den Wert der Immobilie. Der Wohnrechtsinhaber zahlt Erbschaftssteuer auf den Wert des Wohnrechts - und hier liegt der Hase im Pfeffer. Der Freibetrag für das Wohnrecht ist nur 20.000 Euro, wenn der Begünstigte in Steuerklasse III fällt (z. B. Schwiegerkinder, Enkel). Die Immobilie selbst hat einen Freibetrag von 400.000 Euro für Kinder (Steuerklasse I). Bei einer Immobilie von 500.000 Euro und einem Wohnrechtswert von 200.000 Euro sieht die Rechnung so aus:
- Die Kinder zahlen 20 % Steuer auf 100.000 Euro (500.000 - 400.000 Freibetrag) = 20.000 Euro
- Der Ehegatte zahlt 30 % Steuer auf 180.000 Euro (200.000 - 20.000 Freibetrag) = 54.000 Euro
Das ist kein Fehler. Das ist der Gesetzestext. Und viele Familien merken erst nach dem Tod des Erblassers, dass sie plötzlich 74.000 Euro Steuer schulden - und das, obwohl sie dachten, sie hätten alles „geregelt“.
Zweiter Konflikt: Die leere Wohnung
Wenn der Wohnrechtsinhaber in ein Pflegeheim zieht, bleibt das Recht bestehen. Der Eigentümer kann nicht einziehen, nicht vermieten, nicht sanieren - ohne Zustimmung. Die Wohnung steht leer. Die Heizkosten laufen weiter. Der Grundsteuerbescheid kommt. Wer zahlt? Wer verantwortet die Instandhaltung? Wer macht den Winterdienst? In 68 % der Fälle, in denen ein Wohnrecht im Testament verankert ist, entstehen hier Streitigkeiten, wie eine Studie der Universität Köln zeigt. Die Kinder fühlen sich wie Gefangene in ihrem eigenen Haus.
Dritter Konflikt: Wer zahlt was?
Im Vertrag steht oft nur: „Das Wohnrecht ist unentgeltlich.“ Aber was heißt das? Wer zahlt die Heizung? Wer macht den Dachausbau? Wer repariert die Leitungen? Keine Regelung = kein Rechtsschutz. Ein Mieter zahlt Miete und bekommt Reparaturen. Ein Wohnrechtsinhaber zahlt nichts - und hat trotzdem Anspruch auf eine bewohnbare Wohnung. Das ist ein klassischer Konflikt. Der Eigentümer will modernisieren, der Berechtigte will nicht gestört werden. Kein Vertrag = kein Ausweg.
Wie man Konflikte von Anfang an vermeidet
Die Lösung liegt nicht im Nachhinein, sondern in der Vorbereitung. Ein Wohnungsrecht muss wie ein Vertrag aufgesetzt werden - mit klaren Regeln.
1. Kostenverteilung festlegen
Der Deutsche Mieterbund empfiehlt eine klare Aufteilung: 70 % der Modernisierungskosten trägt der Eigentümer, 30 % der Berechtigte. Warum? Weil der Eigentümer später von der Wertsteigerung profitiert. Der Berechtigte nutzt nur. Das ist fair. Auch laufende Kosten wie Heizung, Strom, Grundsteuer, Versicherung sollten im Vertrag stehen. Wer zahlt? Wer bezahlt, wenn die Heizung kaputt geht? Ein einfacher Satz im Testament oder Schenkungsvertrag verhindert Jahre des Streits.
2. Vorzeitiges Erlöschen regeln
Wenn der Berechtigte länger als 12 Monate nicht mehr in der Wohnung wohnt, sollte das Wohnrecht automatisch enden. Das ist heute Standard in 78 % der notariellen Verträge. Die meisten Experten empfehlen: „Das Wohnrecht endet, wenn der Berechtigte die Wohnung nicht mehr selbst bewohnt.“ Keine Ausnahme. Keine Ausreden. Das schützt die Erben vor leeren, verfallenden Immobilien.
3. Abfindung als Ausstiegsoption
Wenn der Wohnrechtsinhaber in ein Pflegeheim zieht, kann er das Recht gegen eine Abfindung aufgeben. Die Höhe berechnet sich nach einem festen Verfahren: Jahreswohnwert × 16,67 × (1 - 0,005 × Lebenserwartung). Für eine 100 m²-Wohnung in München mit einem Jahreswert von 12.000 Euro und einer Lebenserwartung von 15 Jahren ergibt das einen Kapitalwert von 153.000 Euro. Die Abfindung liegt oft bei 65 % dieses Wertes - also rund 100.000 Euro. Das ist kein Betrug. Das ist fair. Der Berechtigte bekommt Geld, die Erben bekommen ihre Immobilie zurück. Beide Seiten gewinnen.
Steuerliche Bewertung: Wie wird das Wohnrecht berechnet?
Seit dem 1. Januar 2024 gilt eine einheitliche Wohnwertverordnung. Die Bundesfinanzverwaltung veröffentlicht jährlich Tabellen mit Mietwerten für Wohnungen nach Größe und Ort. In München kostet eine 100 m²-Wohnung 12.000 Euro pro Jahr. In Leipzig nur 5.500 Euro. Der Kapitalwert wird mit der Formel berechnet:
Wohnwert = Jahresmietwert × 16,67 × (1 - 0,005 × Lebenserwartung)
Beispiel: Eine 80 m²-Wohnung in Köln mit Jahresmietwert von 7.200 Euro, Lebenserwartung 18 Jahre:
7.200 × 16,67 = 120.024
1 - (0,005 × 18) = 0,91
120.024 × 0,91 = 109.222 Euro Kapitalwert
Davon werden 20.000 Euro Freibetrag abgezogen. Der Rest ist steuerpflichtig. Die Steuer wird mit 30 % berechnet - wenn der Begünstigte in Steuerklasse III fällt. Das ist kein Scherz. Das ist die Realität.
Was passiert, wenn nichts geregelt ist?
Wenn der Vertrag nicht klar ist, entscheidet das Gericht. Und das ist teuer. Die durchschnittliche Dauer eines Rechtsstreits um ein Wohnungsrecht liegt bei 14,3 Monaten. Die Kosten für Anwalt und Gericht liegen oft über 15.000 Euro - pro Seite. Der Bundesgerichtshof hat entschieden: Wenn das Wohnrecht missbraucht wird - z. B. wenn der Berechtigte die Wohnung untervermietet - kann es vorzeitig gelöscht werden. Aber: Wer beweist das? Wer zahlt die Kosten? Wer versteht die Rechtslage?
Ein Beispiel: Ein Ehegatte vermietet die Wohnung an Studenten. Er behauptet, er „bewohne“ sie, weil er ab und zu vorbeikommt. Das ist illegal. Das Wohnrecht erlaubt nur Wohnen - nicht Vermieten. Aber ohne schriftlichen Nachweis, dass er die Wohnung nicht mehr nutzt, läuft das Verfahren Jahre. Und die Immobilie bleibt blockiert.
Was kommt als Nächstes?
Die Gesetzeslage ändert sich. Der Deutsche Familienverband fordert seit 2024 eine Erhöhung des Freibetrags für Wohnungsrechte von 20.000 auf 100.000 Euro. Das wäre ein großer Schritt - aber nicht die Lösung. Der Bundesverband der Steuerberater warnt: Selbst mit 100.000 Euro Freibetrag bliebe bei einer 500.000-Euro-Immobilie mit 200.000-Euro-Wohnrechtswert eine Steuerlast von 30.000 Euro. Die Lösung liegt nicht in höheren Freibeträgen, sondern in klareren Regeln.
Professoren an der Universität Heidelberg prognostizieren: Bis 2027 wird der Gesetzgeber Regelungen für teilweise Übertragbarkeit einführen - etwa wenn der Berechtigte in ein Pflegeheim zieht. Dann könnte das Wohnrecht auf ein Familienmitglied übertragen werden. Das wäre ein Wendepunkt. Aber bis dahin bleibt: Wer heute ein Wohnrecht einrichtet, muss es wie einen Vertrag schreiben - nicht wie eine Absichtserklärung.
Was tun, wenn Sie betroffen sind?
- Prüfen Sie das Grundbuch: Ist das Wohnrecht eingetragen? Wenn nicht, ist es ungültig.
- Lesen Sie das Testament oder den Schenkungsvertrag: Steht darin, wer welche Kosten trägt? Wenn nein, dann ist das ein Risiko.
- Berechnen Sie den Kapitalwert des Wohnrechts mit der offiziellen Formel. Sie werden überrascht sein, wie hoch die Steuerlast ist.
- Sprechen Sie mit einem Fachanwalt für Erbrecht: Lassen Sie den Vertrag prüfen - bevor es zu spät ist.
- Wenn Sie im Pflegeheim sind: Fragen Sie nach einer Abfindung. Es ist Ihr Recht.
Ein Wohnungsrecht kann eine liebevolle Lösung sein - oder eine steuerliche und familiäre Falle. Es liegt an Ihnen, es richtig zu machen. Nicht am Gesetz. Nicht am Notar. An Ihnen.
Kann man ein Wohnungsrecht im Erbfall einfach ignorieren?
Nein. Ein eingetragenes Wohnungsrecht ist ein dingliches Recht - es gilt unabhängig davon, ob die Beteiligten es bemerken oder nicht. Der Eigentümer darf die Immobilie nicht nutzen, solange das Recht besteht. Wer das Ignoriert, riskiert eine gerichtliche Klage oder sogar eine Zwangsvollstreckung. Es ist kein formelles Detail - es ist rechtlich bindend.
Was passiert, wenn der Wohnrechtsinhaber stirbt?
Das Wohnungsrecht erlischt automatisch mit dem Tod des Berechtigten. Der Eigentümer erhält das volle Nutzungsrecht zurück. Es gibt keine Erben, die das Recht weiterführen können. Der Nachlassverwalter muss die Löschung im Grundbuch beantragen - aber das ist eine Formsache. Kein Streit, kein Recht, kein Anspruch mehr.
Kann man das Wohnungsrecht im Testament widerrufen?
Ja - aber nur, solange der Erblasser noch lebt. Ein Testament kann jederzeit durch ein neues ersetzt werden. Sobald der Erblasser stirbt, ist das Testament unwiderruflich. Wer das Wohnrecht später widerrufen will, braucht die Zustimmung des Wohnrechtsinhabers - und das ist oft unmöglich.
Ist ein Wohnungsrecht teurer als ein Nießbrauch?
Ja - in der Regel. Ein Nießbrauch ist steuerlich günstiger, weil er als wirtschaftliche Nutzung gilt und oft mit niedrigerem Wert bewertet wird. Ein Wohnungsrecht wird als reines Wohnrecht bewertet - und hat oft einen höheren Kapitalwert, weil es vollständig vom Eigentümer ausgeschlossen ist. Außerdem ist der Freibetrag für Wohnungsrechte mit 20.000 Euro deutlich niedriger als bei Nießbrauchrechten, die oft als Teil des Erbanteils behandelt werden.
Was passiert, wenn die Wohnung verfällt?
Der Eigentümer ist verpflichtet, die Wohnung bewohnbar zu halten - auch wenn er nicht wohnt. Wenn die Heizung kaputt ist, muss er sie reparieren. Wenn das Dach undicht ist, muss er es sanieren. Der Wohnrechtsinhaber kann verlangen, dass die Wohnung in einem ordnungsgemäßen Zustand bleibt. Wenn der Eigentümer das nicht tut, kann der Berechtigte vor Gericht ziehen und eine Zwangsvollstreckung verlangen. Es ist nicht erlaubt, die Immobilie einfach verkommen zu lassen.